Charaktere auf der Couch: #6 Theodora

Heute besucht uns Theodora in der Praxis. Sie ist eine attraktive junge Frau mit dunkelbraunen Locken und rehbraunen Augen, deren Modestil auf den ersten Blick vermuten lässt, sie käme von einem Mittelaltermarkt. Tatsächlich hat Theodora im 12. Jahrhundert gelebt, wo sie als Hofdame der Königin diente, bis sie einige seltsame Vorkommnisse zwangen, in ihre Heimat zurückzukehren. Ihre Familie macht sich große Sorgen. Ist es möglich, dass Theodora von einem Dämon besessen ist?

Theodora, schön, dass Sie gekommen sind. Nehmen Sie doch Platz. Wie fühlen Sie sich heute?

Natürlich gerne. Danke. Wie ich mich fühle? Also … Sie zerknittert den Rock ihres Kleides. Es könnte besser sein. Heute Nacht habe ich nicht gut geschlafen, und es ist noch etwas kalt. Ich bin etwas in Sorge, dass ich mich erkälten könnte. Mit einer Erkältung und Fieber ist nicht zu spaßen, wissen Sie?

Ihr Vater und Ihre Familie machen sich große Sorgen um Sie wegen Ihrer Anfälle. Wie lange ist der letzte Vorfall denn jetzt her?

Vorgestern, glaube ich. Zumindest der letzte, an den ich mich erinnere. Manchmal wird mir kurz schummrig. Ich weiß nicht, ob das auch … Anfälle sind … oder was auch immer …

Können Sie mir beschreiben, was Sie während dieser Anfälle sehen oder erleben? Wie fühlt es sich für Sie an? Keine Sorge, nichts von dem, was Sie hier erzählen, wird nach außen dringen, Sie können mir vertrauen.

Ich kann mich ehrlich gesagt an fast nichts erinnern. Es ist, als würde die Zeit einfach weiterspringen. Danach liege ich meist auf dem Boden, ich bin durstig und müde. Es kostet sehr viel Kraft. Mein Vater hat mir mal beschrieben, wie es aussieht … aber das dürfen Sie wirklich niemandem erzählen! Mit ihnen darüber zu reden, das ist … das ist lebensgefährlich für mich.

Wie ich schon sagte, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Alles, was wir hier sprechen, ist streng vertraulich, auch Ihre Familie wird nichts davon erfahren. Sie können sich nicht erinnern, sagen Sie … War denn jemand bei einem dieser Anfälle dabei, der Ihnen erzählt hat, was passiert ist?

Ja, mein Vater hat mir das so beschrieben: mein Körper zuckt und krampft unkontrolliert. An meinen Mundwinkeln ist – sie schluckt trocken – Spuke. Meine Augenlider flattern und ich muss die Augen verdrehen, jedenfalls meint er, er sieht ganz viel Weiß. Und ich lasse mich wohl nicht anfassen. Ich habe ihn einmal sehr heftig von mir weggeschleudert.

Die Therapeutin macht sich einige Notizen auf ihrem Klemmbrett. Und Sie können sich an gar nichts erinnern? Auch nicht an irgendwelche Fetzen oder Bilder, die Sie gesehen haben? An ungewöhnliche Geräusche?

Theodora blickt zu Boden und nestelt nervös an einem losen Faden in einem Couchkissen. Ich weiß auch nicht, vielleicht war das nur ein böser Traum. Ich habe noch nie mit irgendjemandem darüber gesprochen, also … aber gut. Sie atmet tief durch. Vielleicht muss ich einmal mit jemandem darüber reden, und Sie schwören, dass Sie mich nicht dafür verurteilen werden? Ich meine, es kann auch nur ein Albtraum sein …

Nein, ich verspreche es Ihnen. Sie dürfen ganz offen sein.

Ich erinnere mich an ein ganz fürchterliches Bild. Da stand ein Dämon in unserem Hof. Er hat unsere Hühner geschlachtet und mich gezwungen … mich gezwungen … ihr B… Blut zu trinken. Dann habe ich das Dorf in Brand gesehen. Ich habe sie schreien gehört. All die armen Menschen, meine Freunde. Ich weiß wie gesagt nicht einmal, ob das ein Anfall war. Vielleicht war es nur ein böser Traum. Das Dorf steht noch. Und ich bete zu Gott, dass es keine böse Vorahnung war. I… ich meine, das muss keine böse Vorahnung gewesen sein, oder? Glauben Sie an so etwas?

Nun, um ehrlich zu sein, seit ich in dieser Praxis arbeite, habe ich einige ungewöhnliche Dinge erlebt. Sie räuspert sich. Aber ich glaube viel eher, dass dieser Traum, dieses Bild, das Sie gesehen haben, aus Ihren Ängsten entstanden ist. Ich denke nicht, dass Ihre Familie oder Ihr Dorf in Gefahr ist.

Sie reicht Theodora ein Glas Wasser, damit sie etwas zur Ruhe kommen kann.

Es tut mir leid, wenn ich Sie weiter damit belästigen muss, aber können Sie sich erinnern, wann es angefangen hat? Gab es ein besonderes Ereignis, das mit den Anfällen in Verbindung steht?

Ein besonderes Ereignis? Nicht wirklich. Ich hatte diese Gedächtnislücken teilweise schon am Hof der Königin. Johann hat mir das nie so eindrücklich beschrieben wie mein Vater. Vielleicht war es damals auch nicht so schlimm, vielleicht ist es schlimmer geworden, seit Johann verschwunden ist und ich in Lorch bin. Aber ich hatte es schon ansatzweise am Hof. Es hat nicht erst in Lorch angefangen.

Gibt es etwas, das Ihnen hilft, die Anfälle zu kontrollieren oder zu stoppen?

Sie schlägt traurig die Augen nieder. Stoppen kann man sie meines Wissens nach nicht und auch nicht wirklich kontrollieren. Aber als Johann bei mir war, war es nicht so schlimm. Ich hoffe sehr, dass er bald zurückkommt. Ich vermisse ihn …

Johann ist Ihr Geliebte, nicht wahr? Wie gehen er und Ihre Familie mit diesen Ereignissen um? Fühlen Sie sich von Ihnen unterstützt?

Von meiner Familie lebt nur noch mein Vater. Meine Mutter ist im Kindbett gestorben. Ich stand auch meinem Onkel, meiner Tante und meinem Cousin väterlicherseits sehr nahe. Aber sie wurden von Räubern überfallen und niedergestochen. Sie schweift kurz ab und blinzelt, fängt sich aber wieder.

Mein Vater und Johann sind die Einzigen, die überhaupt davon wissen. Sie unterstützen mich beide auf ihre Weise, sie haben halt sehr unterschiedliche Ansichten auf das, was passiert. Johann meint, ich sei unheilbar krank, aber er wäre trotzdem immer für mich da. Mein Vater … er ist vollkommen überzeugt davon, dass ich – sie schluckt – besessen bin. Das macht mir Angst. Ich fürchte, dass er Recht hat. Es passiert so viel Schlimmes in letzter Zeit in Lorch und ich weiß nicht, ob ich nicht dafür verantwortlich bin. Mein Vater meint, ich dürfe nicht zu einem Exorzisten gehen, weil die Lorcher zu viel Angst haben werden. In Ulm haben sie einen Jungen mit ähnlichen Anfällen in der Luft zerrissen … Sie schaudert.

Das klingt ja schrecklich. Gibt es etwas, das Sie tun könnten, um sich besser zu fühlen? Könnten Sie mit jemandem darüber reden?

Ich konnte mit Johann darüber reden. Aber … Sie schluchzt. Ich weiß nicht einmal, ob Johann noch lebt. Ich hoffe so sehr, dass er bald von dieser bewaffneten Pilgerfahrt zurückkommt!

Ich hoffe sehr, dass Sie Recht haben und er bald zurückkommt. Sie sagen, Ihr Vater und Johann haben sehr unterschiedliche Ansichten, aber was denken Sie selbst über die Anfälle? Was ist Ihre Vermutung, woher sie kommen?

Ich weiß es nicht genau. Vielleicht ist es wirklich nur eine Krankheit. Vielleicht … vielleicht ist es aber auch ein Dämon. Ich denke aber, ganz egal, was es ist, es ist eine fürchterliche Strafe Gottes. Also werde ich wohl irgendetwas falsch gemacht haben. Vielleicht will der Herr meine Beziehung zu Johann nicht. Er ist immerhin der Bruder der Königin und ich … ich bin nur die Tochter eines unbedeutenden Untervogtes. Aber selbst wenn es das ist … ich hoffe es nicht … ich kann meine Liebe zu Johann nicht einfach begraben.

Ich bin mir sicher, dass Sie sich irren, die Anfälle haben sicher nichts mit dem Zorn Gottes zu tun. Aber sprechen wir auch mal über schönere Dinge. Was bereitet Ihnen denn besondere Freude, wie sieht Ihr perfekter Tag aus?

Sie schließt die Augen. Ich spaziere durch den Wald. Johann ist an meiner Seite und mein Cousin und meine Mutter. Wir begegnen einem Reh. Wir hören die Vögel singen. Wir lachen und scherzen miteinander. Meine Mutter hilft mir bei der Hausarbeit. Wir kochen gemeinsam. Am Abend sitzen wir am Feuer in der Küche beieinander. Und danach schlafe ich an Johanns Seite gekuschelt ein. Das wäre ein perfekter Tag für mich. Aber – sie seufzt schwer – das werde ich vor meinem Tod so nicht mehr erleben.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich wünsche mir, dass Johann zurückkommt. Das ist für mich jetzt erst einmal das Wichtigste. Und dann wünsche ich mir natürlich, dass … was auch immer es ist … verschwindet. Oder wenigstens meine Befürchtungen nicht eintreten. Wenn Johann gesund zurückkehrt und den Lorchern nichts passiert, dann … dann würde ich sogar diese Anfälle weiter in Kauf nehmen.


InfokastenEpilepsie


Ocoverb Theodoras Hoffnungen in Erfüllung gehen oder ob sie weiter von den Dämonen in ihrem Kopf heimgesucht wird, erfahrt ihr in Isabella Benz‘ Historienroman „Die Dämonen von Lorch“. Ist die junge Frau tatsächlich von einem Dämon besessen? Könnten ihre Schreckensvisionen wahr werden? Oder treibt jemand ein böses Spiel mit ihr?

Website der Autorin: http://isabella-benz.de/

Facebookseite der Autorin: https://www.facebook.com/AutorinIsabellaBenz/


Quelle:

Neubauer, B. A. & Hahn, A. (2014). Dooses Epilepsien im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer-Verlag.


Unser nächster Patient wird sich am 12. September in der Praxis einfinden und ich ahne, dass Zeyn mich vor ungeahnte Herausforderungen stellen wird. Einen Außerirdischen hatte ich noch nie auf meiner Couch. Ihr dürft gespannt sein.

Eine Übersicht über alle bisherigen Sitzungen findet ihr Teaser: Charaktere auf der Couch

Ansonsten dürft ihr Theodora und mir natürlich auch noch ein paar Fragen stellen, wenn ihr mögt. Nur zu.

3 Gedanken zu „Charaktere auf der Couch: #6 Theodora

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert