Charaktere auf der Couch #9: Charlie

Meine heutige Patientin bei „Charaktere auf der Couch“ ist die bislang jüngste. Charlie stammt aus der Feder von Elenor Avelle, ist 14 Jahre alt und eine der wenigen Überlebenden einer schrecklichen Seuche, die die Welt in ein post-apokalyptisches Trümmerfeld verwandelt hat. Seitdem schlägt sich Charlie mehr oder weniger allein durchs Leben, ein Zustand, der ihrer psychischen Verfassung nicht unbedingt gut tut.

Hallo Charlie, komm doch rein. Du musst dir keine Sorgen machen, hier drinnen bist du sicher. Die Therapeutin mustert die Jugendliche prüfend. Was ist denn passiert? Ist das … Blut?

Charlie sieht auf ihre verschmierten Hände. Sie zittern. Ja. Sie haucht das Wort nur. Die Infizierten waren überall. Ich habe sie umgebracht.

Mein Gott, das klingt ja furchtbar. Setz dich erst einmal, hier passiert dir nichts. Warst du denn mutterseelenallein unterwegs?

Gehetzt blick Charlie auf.
Ich setze mich besser nicht. Dann ist das Blut auf dem Sofa. Es ist der Tod. Sie sind alle tot. Was ich auch tue, keiner von ihnen schafft es.
Ihre Augen werden feucht, aber sie weint nicht.

Die Therapeutin reicht ihr ein Päckchen Taschentücher. Mach dir keine Sorgen wegen der Couch, du kannst dich trotzdem setzen. Atme erst einmal tief durch. Elenor hat mir schon ein wenig von dir erzählt. Du bist eine starke Persönlichkeit und weiß, was du willst. Du bist eine Überlebenskünstlerin. Wenn du dir ein Tier aussuchen könntest, das dich am besten repräsentiert, welches wäre das?

Sie blinzelt Irritiert.
Tier? Ist das jetzt noch wichtig? Nicht, dass ich mir vor der Seuche Gedanken über so etwas gemacht habe.
Sie setzt sich vorsichtig auf die Sofalehne, überprüft, ob sie auch ja kein Blut abschmiert.
Ich bin kein emotionaler Mensch, wissen sie? Das macht es mir leichter in dieser Welt. Ich treffe Entscheidungen, weil sie getroffen werden müssen, so einfach ist das. Aber ich bin auch kein Stein. Die Leute immerzu nur sterben zu sehen…
Sie starrt vor sich hin.
Ein Tier… vielleicht ein Luchs.

Ich verstehe, dass das alles nicht leicht für dich ist, aber ich verspreche dir, hier kannst du offen reden. Warum hast du dir den Luchs ausgesucht?

Ich bin ein Raubtier.
Sie sagt es resignierend. Dann schaut sie auf, ruhig und gesammelt.
Meine Stärken kenne ich gut. Das muss man dort draußen. Wissen Sie, wieso ich so selten auf Infizierte treffe, wenn ich alleine unterwegs bin? Ich gehe über die Dächer. Ich klettere richtig gut. Aber für einen Affen bin ich wohl nicht gesellig genug.
Ein trauriges Lächeln huscht über ihr Gesicht.

Du warst in den letzten Jahren sehr viel auf dich allein gestellt – wie, denkst du, hat dich diese Erfahrung verändert?

Ich war immer schon auf mich alleine gestellt. Meine Mutter habe ich nie kennen gelernt und meinen Vater habe ich kaum zu Gesicht bekommen. Das hat es aber auch leichter für mich gemacht. Ich habe niemanden verloren, der mir wichtig war, als die Seuche ausbrach und ich wusste, wie ich mich um mich selbst kümmern kann.

Ich verstehe, du musstest dich also vor allem auf dich selbst verlassen. Gibt es jemandem, dem du in dieser Zeit wirklich vertrauen konntest?

Vertrauen kann man nur sich selbst. Wenn es hart auf hart kommt, zeigt jeder sein wahres Gesicht und das ist bei den meisten wirklich nicht die Schokoladenseite.
Ihre Augen füllen sich wieder mit Tränen und dieses Mal läuft ihr eine über die Wange.

Die Therapeutin reicht ihr ein Taschentuch. Kein Problem, lass es raus. Hättest du dir in der Zeit eine Vertrauensperson gewünscht?

Was spielt das denn für eine Rolle? Sie leben eh nicht lange.
Sie schlingt die Arme um ihren Körper.
Ich bin manchmal so einsam.

Das tut mir furchtbar leid für dich Charlie. Weißt du, welchen Eindruck ich von dir habe? Ich glaube, du hast eine Mauer um dich her errichtet, kann das sein? Sie beschützt dich, aber sie hält andere Menschen auch von dir fern. Vor allem von deinen Gefühlen und deinen wahren Gedanken. Denkst du, das stimmt?

Charlie zuckt mit den Schultern.
Ich weiß nicht. Gefühle waren nie mein Ding. Vielleicht erwarten die anderen Menschen zu viel, wenn sie von mir alles wissen wollen. Ich bin zufrieden damit, nichts zu sagen. Was soll daran falsch sein?
Sie wischt sich die Tränen mit dem Ärmel ab. Rote Schlieren bleiben auf ihrem Gesicht zurück.
Wenn sie nur nicht so schnell sterben würden.

Wieso, glaubst du, ist es so gekommen? War das deine Entscheidung oder haben andere dich dazu gebracht?

Sie lacht auf.
Sie denken auch, dass jeder offen sein muss und ständig über seine Sorgen reden sollte, nicht wahr? Als ob die anderen sich besser damit fühlen, wenn sie wieder und wieder ihre Verluste betrauern. Wissen sie, weshalb ihre Frage nach dem Tier gar nicht so blöd war? Weil es passt. Tiere leben im Hier und Jetzt und genau das mache ich auch. Wenn andere glücklicher damit sind, sich selbst zu quälen, dann sei es drum, aber sie sterben und ich nicht.

Was müsste passieren, damit du es schaffst, diese Mauer fallen zu lassen oder langsam abzubauen?

Sie seufzt genervt.
Keine Ahnung. Vielleicht muss einer daherkommen, bei dem ich das Gefühl habe, das er durchhält.
Verlegen presst sie die Lippen aufeinander.

Was, denkst du, unterscheidet dich von den anderen Leuten? Warum bist du noch hier und sie nicht?

Unruhig rutscht sie herum.
Vielleicht bin ich verhext, eine Infizierte ohne es zu merken.
Sie schüttelt den Kopf und lächelt über sich selbst.
Oder ich bin zu dumm zum Sterben. Manchmal denke ich, dass es einfacher wäre zu gehen.

Das ist nie eine Lösung, Charlie. Was meinst du, runden wir das Ganze mit einem positiven Ausblick ab? Was ist dein Ziel für die kommenden Wochen und Monate?

Soweit denke ich nicht voraus. Vielleicht lebe ich bis dahin gar nicht mehr.
Sie schaut auf ihre schmutzigen Ärmel.
Doch, wahrscheinlich schon.

Das denke ich auch, du bist eine starke Persönlichkeit. Was möchtest du in dieser Zeit an dir verändern?

Charlie reibt sich unbewusst über die Brust.
Den Schmerz abschütteln, wieder einfach leben. Denn darum geht es doch, oder? Ich lebe.

Denkst du, du wirst das schaffen?

Ja, ich schaffe das. Das habe ich schon immer. Und wenn nicht, tja, dann bin ich tot und dann ist es auch egal.


Cover von "Infiziert" von Elenor Avelle

Ach Mensch, armes Mädchen. Wird es Charlie gelingen, in einer zerstörten, von Infizierten beherrschten Welt zu überleben? Kann sie ihre Einsamkeit überwinden und das Geheimnis ihrer Vergangenheit entschlüsseln? Findet es heraus, in Elenor Avelles Fantasy-Debüt „Infiziert – Geheime Sehnsucht“.

Zur Homepage der Autorin: https://elenoravelle.wordpress.com/


Wollt ihr noch etwas von mir oder Charlie wissen? Nur zu, wir versuchen, euch zu antworten.

Während des Nanowrimo im November bleibt die Praxis geschlossen, der nächste Termin ist deswegen erst wieder am 4. Dezember. Da wird es sich „Schneepoet“ Luc von Nika Sachs auf der Couch bequem machen.

Eine Übersicht über alle bisherigen Termine von „Charaktere auf der Couch“ findet ihr hier.

2 Gedanken zu „Charaktere auf der Couch #9: Charlie

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